Präsent Sein
Romano Guardini sagt:
„Das erste Wirkende ist das Sein des Erziehers; das zweite, was er tut; das dritte erst, was er redet.“
Das trifft sicherlich auf ErzieherInnen zu, aber auch auf alle anderen Menschen. Das, was als erstes wirkt, ist unser Sein, ist unsere Präsenz.
Albert Schweizer sagt, es geht darum, dass wir als Mensch für andere Menschen etwas sind.
Dabei geht es oftmals auch um Hilfe durch das Präsent Sein, besonders in Situationen, in denen man nicht mit Worten oder Taten helfen kann. Die einzige und wichtigste Hilfe besteht dann darin, da zu sein und einen leidenden Menschen in einer schwierigen Situation nicht allein zu lassen.
Dies erfahre ich als Palliativärztin immer wieder in meinem Arbeitsumfeld, in der Begleitung von Menschen am Lebensende. Immer wieder begegnet mir die Frage von Angehörigen, was sie noch tun könnten. Und ich antworte dann, seien sie da, verbringen sie Zeit miteinander.
Ich glaube aber, dass dieses Präsent Sein auch bei uns im Konvent wahnsinnig wichtig ist. Wir neigen dazu, viel miteinander zu tun, Projekte zu stemmen, allein schon den Alltag zu bewältigen, bedeutet meistens viel tun.
Bleibt da noch Zeit fürs Präsent Sein? Und was bedeutet dies in unserem alltäglichen Miteinanderleben?
Bezieht sich dies nur auf die Situationen, in denen man nicht mit Worten und Taten helfen kann, also nur auf schwierige Situationen?
Oder bedeutet Da-Sein im Alltag vielleicht noch etwas Anderes?
Das kleine Nichts
In dem Zusammenhang der Hilfe durch das bloße Dasein, bezeichnet Magda Hollander-Lafon dieses Sein, als das kleine Nichts.
Magda Hollander-Lafon hat als ungarische Jüdin als einzige ihrer Familie Ausschwitz überlebt, lebte dann in Frankreich und hat sich sehr stark für Versöhnung eingesetzt.
Sie erzählt, dass es das kleine Nichts war, das ihr Leben im Konzentrationslager gerettet hatte. Es waren ein Blick, ein Lächeln, eine kleine Geste. Mitgefangene sahen in diesem Augenblick von ihrem eigenen Elend ab. Sie gaben ihr durch ihr schlichtes, menschliches zugewandt Sein die Kraft zum Weiterleben.
Dieses kleine Nichts, das eine stille und doch große Lebensbejahung in sich birgt, gibt es aber auch heute noch, auch hier bei uns im Konvent und ich glaube es gilt achtsam zu sein, um es wahrzunehmen.
Es kann sich in einer freudigen Begrüßung, einem aufmunternden Blick zeigen, einer sanften Berührung, einem Moment des gemeinsamen Schweigens, ein verständnisvolles Kopfnicken oder Zulächeln. All dies kann unmissverständlich zu verstehen geben:
Ich sehe dich. Du bist wichtig, gut dass du da bist.
Das kleine Nichts offenbart sich aber auch im Gezwitscher der Vögel, dem Anblick einer Blume, im Zusammensein mit vertrauten Menschen.
In all dem liegt ein Sein verborgen, das diejenigen, die es zu empfangen vermögen, absichtslos zum Leben ermutigt.
Ich empfinde es z.B. jedes Mal als große Freude mitten in der Stadt ein Eichhörnchen zu sehen. Es kommt mir immer wie ein Gruß Gottes vor, eine Erinnerung, mich an dem Geschenk des Lebens zu erfreuen.
In unserer leistungsorientierten Gesellschaft hat es das kleine Nichts je doch schwer.
Wie oft fragen wir uns, was bringt mir das? Was habe ich davon?
Das, was in unserer Gesellschaft zählt, ist sicherlich nicht das kleine Nichts.
Aber in unserer Gemeinschaft dürfen wir ja ganz bewusst auch andere Wege gehen.
Ich möchte uns dazu ermutigen, mehr absichtsloses Sein im Miteinander zu üben. Denn wenn alles nur zweckgebunden ist, laufen wir Gefahr den Geschenk Character des Lebens nicht mehr wahrzunehmen und kostbare Momente unserer Begegnungen ziehen dann unbemerkt an uns vorbei.
Unser Leben wird dann so viel ärmer, wenn wir, wie Martin Buber so schön sagt, den Nutzen des Nutzlosen nicht kennen.
Also mehr Mut zur Nutzlosigkeit und zum kleinen Nichts.
Marlies Reulecke